Deister- und Weserzeitung      Hameln

    Das Weserbergland
    in der Region Stadthagen,Springe, Hameln,Bad-Pyrmont, Holzminden
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    Zahlen:
    Bevölkerung: 427 000 Menschen
    Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte: 107 000 Erwerbstätige
    Arbeitslose: 30 000 Menschen als arbeitssuchend gemeldet.
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    In den letzten 10 Jahren abgebaute und damit weggebrochene
    sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze: 16 000 Stellen
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    Quelle: Deister- und Weserzeitung am 21.04.05

           

Zum Thema:

    Firmenpleiten in Deutschland 2004
    Die Pleitewelle in Deutschland hat auch 2004 kein Ende gefunden. Die erhoffte Trendwende bei den Unternehmensinsolvenzen sei ausgeblieben, erklärte die Wirtschaftsauskunftei Creditrefom in Düsseldorf. Creditraform hat 39 600 Firmenpleiten (plus 0,3 Prozent) gezählt - die Zahl erreichte zum fünften Mal in Folge eine Rekordhöhe. Auch in den meisten anderen Ländern Westeuropas gingen mehr Unternehmen in die Pleite als im Vorjahr. In absoluten Zahlen ist Frankreich Europas Pleitegeier - auf Platz zwei folgt aber auch schon Deutschland. Die Zahl der Firmenpleiten in Niedersachsen nahm leicht auf 3166 zu. Am stärksten betroffen war hier das Baugewerbe mit 739 Verfahren, gefolgt von Anbietern wirtschaftsnaher Dienstleistungen (636), dem Handel (624) und dem Verarbeitenden Gewerbe (404)

Hintergrund:

    Deutschland 1945-2005
    Nach dem Krieg durchlebte Deutschland bittere Jahre. Mitte der 50er Jahre ging es dann bergauf. Nach Wiederaufbau und Wirtschaftswunder kam für Deutschland die Zeit der relativen Ruhe, der Sättigung - und des Ölschocks. Mitte der 70er Jahre wurden erstmals über eine Million Arbeitslose verzeichnet. Was damals als Katastrophe Schlagzeilen machte, sorgt heute nur noch für ein müdes Lächeln. 1983 sprang die Arbeitslosenzehl erstmals über die Zwei-Millionen-Grenze, zehn Jahre später über drei Millionen, 1997 schon über die viel Millionen, aktuell ist nach offizieller Rechnung die Fünf-Millionen-Schallmauer durchbrochen. Tatsächlich sind es rund 6,5 Millionen Arbeitslose. Die Rezession, die der Arbeitszeitrechnung folgende industrielle Modernisierung und die mit der Globalisierung einhergehende Verlagerung von deutschen Betrieben in Billiglohnländer haben nacheinander sehr deutlich ihre Spuren hinterlassen.
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    Weserbergland

    In zehn Jahren wurden 16 000 Arbeitsplätze vernichtet

    Insolvenzen, Schließungen, Betriebsverlagerungen - eine Beschäftigungsbilanz der Wirtschaftsregion Weserbergland

    Es war um das Jahr 1960, als die Zeiten noch so richtig gut waren. Der Wirtschaftsboom in Deutschland machte Unternehmer wie Arbeitnehmer froh. Auch in Hameln ging es ständig bergauf: Die AEG stand in voller Blüte, Teppiche aus den Werken von Besmer und OKA waren in aller Welt geschätzt, allein bei Stephan freuten sich 1200 Mitarbeiter über die Weltgeltung ihres Werkes, das Eisen- und Hartgusswerk Concordia gab noch 400 Familien Lohn und Brot, in der ABG produzierten über 500 Mitarbeiter, die Sohlen des Gummiwerkes Otto Körting klebten unter vielen Schuhen. Vogeley, die Wollwarenfabrik Theodor Günther Zur Lust und die Brauerei Förster& Brecke bauten neue Betriebe auf, allein bei Sinram& Wendt arbeiteten noch 600 Menschen. In der Holzverarbeitung und Kleinmöbelherstellung machten sich Firmen wie Emme in Bad Pyrmont, Starke in Reher und Juwel in Emmerthal einen guten Namen.

     

    Und die Arbeitslosenquote "lag im Jahresschnitt knapp unter einem Prozent". 936 Menschen suchten damals in Hameln und Umgebung einen Job. "Das waren noch Zeiten", meint Jürgen Schewemann, Abschnittsleiter der Arbeitsvermittlung bei der Arbeitsagentur Hameln.

    Heute sind fast 30 000 Menschen im Arbeitsagenturbezirk Hameln arbeitslos. 30 000 Wirtschaftsschicksale in der Region von Stadthagen, Rinteln und Springeüber Hameln und Bad Pyrmont bis nach Holzminden. Hier leben 427 000 Menschen. Hinter der nackten Arbeitslosenzahl verbergen sich 30 000, die keine Arbeit und kein eigenes Einkommen haben. Und deren berufliche Perspektiven alles andere als rosig sind.

    Wie ist diese hohe Zahl an Arbeitslosen entstanden? Parallel zur deutschen Entwicklung (siehe "Hintergrund") hat sich der Arbeitsmarkt in und um Hameln verändert. Nach den wirtschaftlichen Boomjahren des Aufbaus erfassten erst der Ölschock und später die Rezession auch das Weserbergland. Zahlreiche Firmen sind Pleite gegangen, haben ihren Betrieb geschlossen oder ihre Produktionsstätte an einen kostengünstigeren Standort verlagert. Der Pressesprecher der Hamelner Arbeitsagentur, Rudolf Wolff, erklärt: "Das sind die klassischen Gründe, warum Arbeitslosigkeit entsteht: Insolvenzen, Betriebsverlagerungen und Stilllegungen." Die Statistik belegt: Auf diese Weise sind seit März 1995 im Arbeitsagenturbezirk Hameln fast 16 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze vernichtet worden. Vor zehn Jahren waren noch knapp 123 000 Menschen in der Region sozialversicherungspflichtig beschäftigt - heute sind es nur noch 107 000.

    Schewemann bemüht für den Standort Hameln das Beispiel AEG: Dort haben im Jahr 1990 noch 3000 Menschen gearbeitet, heute bei dem Nach-Nachfolger Actaris sind es gerade noch 215. Schewemann: "Wenn solch ein Unternehmen schließt, verlagert oder verkauft, hat das gravierende Auswirkungen auf den hiesigen Arbeitsmarkt. Im Fall AEG wurde das Arbeitslosenproblem durch die Tatsache, dass dort überwiegend speziell angelernte Mitarbeiter beschäftigt waren, noch verstärkt. Wenn ein solcher Betrieb schließt, sind die Mitarbeiter der so genannten Hausfrauenschichten für uns anschließend nur sehr schwer vermittelbar." Derartige Fälle seien typisch für die Verarbeitende Industrie, für die Textilbranche und die Möbelherstellung - und im Bereich Hameln-Pyrmont "überdurchschnittlich häufig vorgekommen". Schewemann nennt weitere Beispiele: die Firmen Mondomod, Hansen-Röcke, Blusen-Neumann und Reese-Pudding.

    Das Verarbeitende Gewerbe in Sachen Textil, Holz, Gummi, Glas, Keramik, Maschinenbau, Datenverarbeitung, Möbel und Schmuck gehört im Weserbergland ebenso zu den Branchen-Sorgenkindern wie die Bauindustrie und der Handel:

    In der Verarbeitenden Industrie sind allein in den fünf Jahren von Mitte 1999 bis Mitte 2004 im Arbeitsagenturbezirk Hameln fast 5000 Arbeitsplätze weggebrochen (zum Beispiel bei Dragoco und Haarmann& Reimer, Küchenfronthersteller Hörnlein Bevern, Rigips, Hanning Elektro-Werke Hehlen, Silo-Wolff Lauenförde, Porzellanmanufaktur Fürstenberg, Alcatel, Heye-Glas, Otis, Casala, Kögel oder die beiden Springer Unternehmen Bison-Kv ærner und Philips-Licht). Die Hälfte der 5000 Stellen sind allein im Landkreis Hameln-Pyrmont dem Rotstift zum Opfer gefallen (zum Beispiel bei Union-Kleiderbügel, Reese GmbH und mb-Software).

    Im Handel (Einzel-, Groß- und Kfz-Handel) sind in diesem Fünf-Jahreszeitraum gut 1200 Stellen gestrichen worden. Im gesamten Bezirk traf es viele kleine Betriebe. In Hameln sind prominente Geschäftsaufgaben wie Holtmann, Opitz oder Held noch in Erinnerung.

    Am Bau sind in derselben Zeit 2850 Jobs weggefallen. Das ist ein Minus von sage und schreibe 30 Prozent - Folge der eingebrochenen Baukonjunktur. Wolff erklärt nüchtern: "Wenn es Überkapazitäten gibt, die der Markt nicht abruft, dann ist schlicht was über." "Über" waren Betriebe wie Ackemann in Schaumburg oder Bau-Meier in Lügde, wo viele Mitarbeiter aus Bad Pyrmont kamen.

    Ebenso wie am Bau ist im Wirtschaftszweig der Energie- und Wasserversorgung ein Drittel der Stellen abgebaut worden, in erster Linie im Kreis Hameln-Pyrmont. Laut Schewemann hat "hier unter anderem Wesertal ins Kontor geschlagen".

    Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes der Unternehmen im mittleren Wesergebiet (AdU), Klaus Frede, hat die Situation der Region jüngst so beschrieben: Das Weserbergland habe "den Übergang von einer traditionellen Industriegesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft noch nicht geschafft", zudem "degradierten überregional agierende Unternehmen hiesige Betriebe zu unbedeutenden Niederlassungen", und der Mittelstand habe große Probleme mit der Unternehmensnachfolge. Eine hohe Zahl an Insolvenzen und Arbeitslosen erzeuge in der Bevölkerung eine sorgenvolle Stimmung, die "katastrophale Folgen für das Konsumverhalten" habe. Hinzu komme eine schlechte Verkehrsanbindung und eine zu erwartende Überalterung der Region.

    Auch Arbeitsagentur-Sprecher Wolff weiß um die Probleme, die sich in seinem Haus jeden Monat in Zahlen niederschlagen. Wolff: "Was uns in den althergebrachten Industrien in den letzten zehn Jahren an Arbeitsplätzen weggebrochen ist, wird nicht wieder nachwachsen."

    Zum allgemeinen Stellenabbau gesellt sich seit der politischen PR-Aktion für Minijobs ein zweites Problem. Wie Schewemann erläutert, werden "gerade im Handel und in der Gastronomie häufig reguläre Beschäftigte durch 400-Euro-Kräfte ersetzt". In wirtschaftlich schlechten Zeiten würden oftmals Vollzeitkräfte entlassen, "und wenn es der Firma wieder besser geht, dann werden für diese Arbeit 400-Euro-Kräfte eingestellt".

    Die Minijobzentrale der Bundesknappschaft in Bochum hat den Trend jüngst in ihrer Bilanz für das Jahr 2004 bestätigt: Im vergangenen Jahr sind 700 000 Minijobber hinzugekommen. Insgesamt hatten Ende des letzten Jahres 6,9 Millionen Menschen 7,3 Millionen Minijobs. Das heißt, es gibt bereits viele "Doppel-Minijobber". Für den Hamelner Arbeitsvermittler Schewemann ist damit ein Trend klar erkennbar: "Wir nähern uns dann amerikanischen Verhältnissen. Immer mehr Arbeitnehmer werden mehrere Jobs annehmen müssen."

    Bei allen negativen Vorzeichen des Arbeitsmarktes sehen Schewemann und Wolff jedoch auch Lichtblicke: Zum einen habe Hameln immer noch das BHW, das imübrigen in seinem Call-Center 150 Arbeitsplätze geschaffen habe. Zudem habe die Region mit erfolgreichen und zum Teil weltweit agierenden Firmen wie Lenze, der Aerzener Maschinenfabrik und Reintjes im Maschinenbau und in der Elektroindustrie echte Pfunde. Außerdem hat die Blomberger Firma Phoenix mit einem neuen Werk in Bad Pyrmont 450 Stellen geschaffen, und Bertelsmann habe Springe auch 50 neue Jobs gebracht. Und schließlich biete die Fremdenverkehrsbranche immer noch "ein großes Potenzial" für die gesamte Re gion. Unter dem Strich sind solche "positiven Lichtblicke" jedoch zu wenig.

    Bei alledem schwebtüber der Stadt Hameln derzeit ein Damoklesschwert: Der größte Arbeitgeber und größte Gewerbesteuerzahler, das BHW, steht zum Verkauf. Das börsennotierte Unternehmen gehört zu knapp 39 Prozent der BGAG Beteiligungsgesellschaft der Gewerkschaften und zu 36,6 Prozent dem Deutschen Beamtenwirtschaftsbund. Beide sind sich einig: Die Aktienpakete sollen veräußert werden, am besten in einem Rutsch an einen neuen Investor gehen. Was ein solcher Investor dann mit dem Hamelner Finanzkonzern macht, ob er ihn als eigenständige Aktiengesellschaft in Hameln weiterarbeiten lässt, ob er ihn in seinen bestehenden Konzern integriert, ob er Teile verlagert oder verschlankt - alles das sind Fragen, über die zwar sehr viel spekuliert wird, auf die aber im Augenblick niemand Antworten hat. Für den hiesigen Arbeitsmarkt und die Entwicklung der Region Hameln wäre ein Arbeitsplatzabbau im größeren Stil beim BHW eine Katastrophe.  Dewezet, 21.04.2005